Abteikirche MouzonNEU ! (12.X.2002) : Die Orgel von Mouzon, "ein Abklatsch ohne Interesse" ?

                                        Unsere CD 7/8 : Die Kunst der Fuge 

Unsere CD 9 : Improvisationen, von Marc Pinardel 

 

Mouzon zog als ehemaliger keltischer Hafen an der Maas römische Kohorten an und wurde so eine wichtige Etappe auf dem Weg Reims-Trier. Es war aufgrund seiner Grenzsituation stark umkämpft, daher liess Adalberon, der Erzbischof von Reims, 971 dort Benediktinermönche ansiedeln. Die Abtei erlebt schnell einen steilen Aufschwung und wird sogar zum Schauplatz mehrerer Synoden. Die jetzige Abteikirche wurde vom 13. bis 15. Jahrhundert nach einem der Kathedrale von Laon nachempfundenen Plan erbaut und besitzt noch einen Chor und ein Hauptschiff in reiner Frühgotik. Interessant sind die Ostpartie mit den drei Fensterreihen und das zwischen den Türmen eingezogene Westportal mit reichem Figurenschmuck. Großartig ist der weite Innenraum (60 m Länge, 21 m Gewölbehöhe). Die Wände sind in vier Zonen eingeteilt : Arkaden auf Säulen, darüber Emporen, die den gesamten Kirchenraum umziehen, Triforium und Spitzbogenfenster. Den Langchor umgibt ein Umgang mit Kapellenkranz. Besonders schön ist das geschnitzte Orgelgehäuse aus dem Jahre 1725.

Seit Anfang des 17. Jahrhunderts wurde die ein wenig verkommene Abtei von den Benediktinern der Kongregation Saint-Vannes aus Verdun wieder zur Ordnung gerufen und die Abtei bekam neues Leben, wovon die heutigen klösterlichen Gebäude zeugen, der riesige Altar, und die große zwischen 1723 und 1725 von Christophe Moucherel erbaute Orgel : "Un grand huit pieds, avec bourdon de seize pieds, pedal seperé, quatre claviers, positif, écho, cornet de récit". Die Restaurierung des Orgelprospekts und der Bau des Instruments nach altem Vorbild durch Barthélémy Formentelli von 1988-91 haben diesem phantastischen Instrument all seine frühere Seele wiedergegeben und dienen vorzüglich der Musik seiner Zeit, die seit 1981 ein besonderes Anliegen des Vereins "Présence de l'Abbatiale" ist.

In Mouzon ist das einzige französische Unternehmen, das Filz für die Industrie herstellt. Es hat in einem ehem. Bauernhof des Klosters ein Filzmuseum (Musée du feutre) eingerichtet. Dieses zeigt die Geschichte und Herstellung des Filzes, angefangen mit seiner Verwendung für handwerkliche Arbeiten (Teppiche, Hirtenmäntel der afghanischen und türkischen Nomaden) bis zu Industrieprodukten wie Bodenbelägen und Filtern für Staubsauger. Daneben sieht man auch die bekannteren Verwendungszwecke von Filz zur Herstellung von Hüten, Pantoffeln und dekorativen Gegenständen. Den industriellen Fertigungsprozess erläutert ein Fließband, das hier zu einem Viertel seiner Länge aufgebaut wurde. In einem Raum werden moderne Kunstwerke aus Filz präsentiert und man kann sich sogar unter Anleitung des Personals im "Filzen" üben.


Christophe MOUCHEREL (1723-1725)

Barthélémy FORMENTELLI (1988-1991)

Meisterwerk von Christophe MoucherelDieses Instrument ist das Prunkstück des Kircheninneren. Es wurde in den Jahren 1723 bis 1725 von Christophe Moucherel erbaut. Dieser wurde 1686 in Toul geboren, war anfänglich Schreiner, Drechsler und Buchstabengießer und baute seine erste Orgel im Jahre 1716. Als er im Jahre 1734 den Auftrag bekam, die monumentale Orgel der Kathedrale von Albi zu bauen, hatte er schon zwölf Orgeln gefertigt und an 25 anderen Reparaturarbeiten durchgeführt. Nach der Fertigstellung der Arbeiten in Albi im Jahre 1737 baute er noch die Orgeln in den Kathedralen von Castres und Narbonne und in der Abtei von Boulbonne. Von 1761 an verliert sich seine Spur.

Im Jahre 1985 beschloss man, eine Restaurierung dieses Orgelwerkes durchzuführen, wobei die fehlenden Elemente gemäß den Prinzipien des Traktats von Dom Bédos von 1766 rekonstruiert werden sollten. Dabei bleibt zum jetzigen Zeitpunkt von dem ursprünglichen Instrument Moucherels nicht mehr allzuviel übrig : das Gehäuse, Teile der Mechanik, die Pedalwindladen und die Flöten 6' und 12' im Pedal. Beachtenswert ist die neue Windversorgung mit vier Keilbälgen, die nicht durch ein Gebläse mit Wind versorgt werden, sondern durch einen Motor so bewegt werden, wie es in früheren Zeiten durch den Kalkant geschah. Windversorgung wie auch eine feinfühlige Intonation geben dem Organisten alle Möglichkeiten eines differenzierten Anschlages. Das Atmen der Bälge ist in leisen Partien der Aufnahme zu hören gleichsam wie ein regelmäßiger sanfter Schlag.

Es lag irgendwie auf der Hand, dass Barthélémy Formentelli mit den Restaurierungsarbeiten betraut wurde. Er hatte zwischen 1971 und 1981 mit großem Erfolg die Restaurierung der Orgel von Albi durchgeführt und war auf diesem Wege schlechterdings mit den bedeutendsten noch erhaltenen Material von Moucherel in Kontakt getreten. Aber ein solches Projekt wie dieses in einer Provinzstadt in den französischen Ardennen konnte nur zu einem guten Ende geführt werden durch den Enthusiasmus und den nachhaltigen Einsatz der Vereinigung "Présence de l'Abbatiale".

Die Mouzoner Orgel , eine echte Barockorgel ?

Präludium : " Schon wieder ein Abklatsch ohne Interesse ", sagte zu mir mit einem Mäulchen der Verachtung ein berühmter französischer Musikwissentschaftler und Journalist vor circa 12 Jahren im Augenblick des Wiederaufbaus. Seit der Einweihung durch Olivier Latry im Jahre 1991 bis heute hat dieser " Abklatsch " eine ungeheure Anzahl von Zuhörern und Organisten aus allen Teilen Europas interessiert, ja sogar begeistert. Er hat sich in 70 öffentlichen sowie einigen privaten Konzerten vorgestellt, hat eine Menge von Besuchern zur Empore gelockt und es erlaubt, 7 bekannte und überall in der Welt anerkannte Aufnahmen zu realisieren : 3 CDs französischer Musik : " Au fil du motet ", Jean-Jacques Beauvarlet-Charpentier und Dandrieu ; 3 Bach-CDs : die erste und die letzte doppelte " Die Kunst der Fuge " ; 1 CD zum " Tanz " von dem Mittelalter bis zu Béla Bartók gewidmet…

Besonderheit dieses Instruments : Wenn man sich damit zufrieden gibt, die Disposition zu lesen, d.h. die Liste und Lage der Register, wird bestätigt, dass es sich um eine große französische 8-Fuss-Orgel handelt, ohne Kompromiss. Die Christophe-Moucherel-Orgel ist auf dem Papier wiedergefunden : " 4 Manuale und Pedal, eine große 8-Fuss-Orgel mit Gedackt 16’… ", mit einem wichtigen Echo, das 7 unabhängige Register umfasst, einem schönen Erbe vom 17. Jahrhundert, das die 3 Familien darstellt : ein kleines Plenum ; Nasard und Tierce ; Musette (in der Tat ein enges Krummhorn) und eine Echoklappe, die über dem Organisten angebracht ist und diesem Echo erlaubt, nach deutscher Art auch als Brustwerk gespielt zu werden. Kein Wunder, wenn man weiß, dass Moucherel den Orgelbau bei Deutschen gelernt hat und dass er wahrscheinlich den französischen, deutschen und flämischen Bau seiner Epoche kannte. Wenn also das Hauptwerk, Rückpositiv und Echo ihre ursprüngliche Disposition wiedergefunden haben, was beinahe sicher ist, muss man auch wissen, dass einige sehr interessante Zusätze, die jedoch zu keinem Stilbruch führen, dieses Instrument beträchtlich verbessert haben : 50 Noten statt 48 für beide Hauptmanuale, 32 Noten für das " Récit " statt 27, 39 Noten für das Echo und 27 für das Pedal statt 24 im originalen Zustand. Hauptwerk und Positiv gelangen zum D50, ohne erstes Dis wie in ALBI, das Récit geht bis zum zweiten G runter, das Echo bis zum zweiten C und das Pedal verlängert die 2 Oktaven mit den hohen Cis, D und E. Soweit zum Umfang der Klaviaturen, unter Berücksichtigung des Gehäuses und der Dimensionen des Spieltisches.

Einige Register wurden in MOUZON hinzugefügt : zum " Cornet de Récit " eine Trompete und eine Oboe (wie in ALBI) ; im Pedal eine 16’ Flöte und eine " Bombarde ". Das Moucherel-Pedal reichte vom F0 bis zum F2, mit 12’ und 6’ Flöten, Trompete und " Clairon " : so durfte man es nicht wiederaufbauen. Selbstverständlich erlaubt der quasi integrale Neuaufbau einige " Vertraulichkeiten ", unter der Bedingung, dass sie den Stil und das originale Gehäuse achten. Von Moucherel geblieben sind, außer dem herrlichen Prospekt, einige Teile der Registertraktur, die Windladen und die Holzflöten des Pedals, und… 5 kleine Zinnpfeifen, zweifellos aus einer Mixtur. Barthélémy Formentelli, der das große Meisterwerk von ALBI einige Jahre früher restauriert hatte, hat die Hand des Meisters an der Art und Weise, wie gelötet wurde, wohl erkannt. Die anderen Windladen sind im Laufe der von Déjardin im Jahre 1870 durchgeführten Arbeiten verschwunden, die die Orgel, dem Zeitgeschmack entsprechend, dem symphonischen Stil anpassten, und die Metallpfeifen wurden 1917 von den Deutschen konfisziert…

Soweit zur Disposition. Aber das genügt absolut nicht, die " französische Orgel " oder " Barockorgel " zu charakterisieren. Wie viele der so genannten " Barockinstrumente " - wo jedes Register seine eigene Persönlichkeit haben und mit den anderen " plaudern " sollte - entfalten sich zu höchster Form bei einem Werk von César Franck ! Wie viele " miauen in den Ecken ", eine von Bernard Aubertin entlehnte Redewendung, oder ähneln doch nur mehr oder weniger einer elektronischen Orgel des Typs " klassisch " oder " Kirchenorgel " ! Der Name der Register reicht also nicht, man muss sie passend intonieren… was keine leichte Arbeit ist.

In der Werkstatt : Alles soll nach allen Regeln der Kunst handgemacht werden : in MOUZON war " Dom Bédos " die uneingeschränkt beste Empfehlung. Es wäre zu lang alle technischen Einzelheiten hier zu erwähnen, aber ein aufmerksames Lesen seines Lehrbuches " Die Kunst des Orgelbauers " (1766) ist unbedingt notwendig. Bloß für das Zinn : Schmelzen in der Werkstatt, 95% im allgemeinen, von Hand gehobelt, mechanisch gehämmert ; Kern ohne Spalten. Was die Zungenpfeifen betrifft : Zunge aus " abgekratztem " Messing, von Hand ausgeschnitten und gefeilt, eiserne Stimmkrücke, Keil aus Nußbaumholz. Keilförmige Bälge mit hölzernen, durch Pergament doppelt abgedichteten Windkanälen, einzelne Windkanäle aus Blei. Schleifladen, Klaviaturen und mechanische Traktur aus lokalen edlen Materialen wie früher.

Auf der Empore : Zum ersten Mal gibt der Orgelbauer dem Instrument seinen Klang. Das ist das " Intonieren ", wesentliche, spannende, sogar manchmal rührende Arbeit – die in MOUZON 3 Monate lang 4 Personen beschäftigt hat – logische Folge der Handarbeit in der Werkstatt, die sie einigermaßen verherrlichen soll, was nicht nur eine lange praktische Erfahrung verlangt, aber auch einen entschiedenen Geschmack und ein sicheres Gespür für die instrumentale Poetik : Öffnen der Aufschnitte an Ort und Stelle, dem Stil, der " Windkraft " und der Akustik gemäß ; Zungenpfeifenbearbeitung, insbesondere die Zungen selbst. Hier handelt es sich nicht um eine wohl bestimmte und immer wiederholte Praxis, sondern vielmehr um eine jedesmal von neuem begonnnene SCHÖPFUNG, mit all ihren Ungewissheiten und Glückszufällen…

Was den Stil betrifft, sind für MOUZON einmal mehr Dom Bédos sowie ALBI (1734) und einige Spuren im Gehäuse maßgeblich : Luftdruck von 75 mm Wasserhöhe, etwas höhere Aufschnitte als zu dieser Zeit üblich, A 392, ungleichschwebende Temperatur mit drei reinen Terzen. Die Prinzipale " folgen " den ziemlich breiten Prospektpfeifen, deren von Christophe Moucherel mit dem Zirkel gezeichnetes Maß auf der Innentafel des Unterprospekts 1985 entdeckt wurde. Die Intonation dieser Epoche, mit scharfer Kernkante, erlaubt eine ideale " Aussprache ", mit heller und offener Tongebung, ohne Weichheit, und - was eng verbunden ist - mit einem kräftigen, an natürlichen Obertönen reichen Klang. Wer allerdings von der Pfeifenorgel die so genannte und moderne " Vollkommenheit " des Tons verlangt, ohne " Nebengeräusche " - wie die Akustiker sagen – und die " perfekte " Homogenität aller Noten, wird von dieser " menschlichen " Intonation, die sehr wohl schwieriger zu erreichen ist, nicht befriedigt. Doch hingegen : Welch ein Leben, welch eine Natürlichkeit, welch ein Charakter in diesem Klang ! Eine wachsende Anzahl von Organisten und Zuhörern, auch Neulingen, irrt sich da nicht mehr…

Jean-Philippe Gélu, 14. April 2002

PRESENCE DE L'ABBATIALE

Der Verein der Orgelfreunde "Présence de l'Abbatiale" wurde 1981 gegründet in der Absicht, die Orgel Christophe MOUCHEREL zu restaurieren. Seit seinem Bestehen sind schon mehr als 130 Konzerte organisiert worden und 10 CD-Aufnahmen mit der restaurierten Orgel herausgegeben worden (bitte unsere "Boutique"-Seite befragen !). Gleichzeitig entstand eine große Ausstellung über die Restaurierungsarbeiten in der Nordgalerie der Abteikirche. Ferner wurde eine Video-Kassette herausgegeben, auf der die einzelnen Etappen der konstruktiven Ausführung der Orgel und ihrer Montage verdeutlicht werden, und zwar unter ständiger Bezugnahme auf Dom Bédos Abhandlung über "Die Kunst des Orgelbauers" (1766). Es fehlt auch nicht an Zukunftsplänen, denn es sind Lehrgänge und eine Menge von Konzerten und Tonband-Aufnahmen  vorgesehen.

Pascale ROUET

Pascale RouetPascale Rouet unternimmt ihr erstes Musikstudium mit Maurice Pinsson in der Musikhochschule von Charleville-Mézières (Ardennen), dann in der Nationalmusikhochschule von Reims mit Arsène Muzerelle ; sie absolviert dann die Pariser Musikhochschule auf folgenden Gebieten : Orgel, Improvisation (Rolande Falcinelli), Harmonie (Roger Boutry), Kontrapunkt (Jean-Paul Holstein), Fuge (Marcel Bitsch) und Instrumentierung (Serge Nigg), in denen sie zahlreiche "erste Preise" bekommt. Danach studiert sie Improvisation mit Jean-Pierre Leguay, Cembalo mit Yannick Le Gaillard, Orgel mit André Isoir und Bernard Foccroulle und erhält 1986 den ersten Preis des Internationalen Wettbewerbs von Toulouse, der der zeitgenössischen Musik gewidmet ist. 1988 erhält sie ein Lehramt für Orgelmusik an der Musikhochschule von Carleville-Mézières und wird 1991 zur Titularorganistin in der Abteikirche "Notre-Dame" in Mouzon ernannt.



Unsere CD 7/8 : Johann Sebastian Bach, Jugend und Reife

Die Kunst der Fuge

Die Kunst der Fuge, das ist in erster Linie ein Motiv von 12 Noten, eine kreisförmige Struktur, die einem Punkt entspringt und wieder dorthin zurückkehrt. Auf Anhieb scheint es, als sei alles gleichmäßig vollkommen, und alles gesagt. Doch plötzlich, entgegen aller Erwartung, beginnt diese Gleichmäßigkeit sich zu verzweigen wie ein Baum und nicht wie eine absichtlich geplante Architektur. Die Dynamik des Baums rührt vom Zusammentreffen des in seinem Keim steckenden vollkommenen Gleichgewichts her, auf das zahlreiche Zwischenfälle während seines Wachstums eingewirkt haben. Somit ändert sich in der Kunst der Fuge das Motiv - dieser perfekte Keim, windet sich, dehnt sich, zieht sich wieder zusammen, wendet sich, bekämpft feindliche Elemente und schafft sich unvermutete Verbündete. Hier regiert das Unerwartete.

In der Tat, was ist weniger vorauszusehen als die beiden Pausen, die gegen Ende die hart geführte Rede der ersten Fuge unterbrechen ? Und jedes Stück dieser Sammlung könnte ähnliche Beispiele anführen. Es scheint, als würde Bach jegliches System ablehnen. Für ihn ist die Fuge das auserwählte Land der Freiheit.

Zwar folgt jede seiner Fugen zu Beginn einem ganz bestimmten System, aber dieses System steht nicht für sich selbst da, und Bach empfindet immer wieder Vergnügen daran, es so oder so durcheinanderzubringen. Hier, wie im Leben, sorgen Begegnungen und Ereignisse dafür, die sorgfältig festgelegten Pläne zu verändern und uns so ungeahnte Möglichkeiten zu eröffnen. Die Interpretation sowie das Hören eines solchen Werkes ist ein Abenteuer, ein Spaziergang durch eine Landschaft, die auf ihre Geheimnisse bedacht ist. Wer sich damit begnügt, nur mit halbem Ohr hinzuhören, wird bloß Unruhe und Langeweile heraushören. Wer es aber wagt, auf den schmalen Pfaden dieses Forstes zu wandeln, wer sich träumend vor einen seiner Bäume setzt, der wird manche Überraschung erleben.

Louis Thiry - Übersetzung : Gisela Grosselin

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JUGEND UND REIFE

Schon mit etwa 15 Jahren war ich - wörtlich genommen - bezaubert, beherrscht und befreit zugleich durch diese einmalige Musik : die Kunst der Fuge. Seitdem wirkt immer noch diese Magie, und die Verbindung mit der Ankunft des Jahres 2000, mit dem Tode von Johann Sebastian Bach vor 250 Jahren, mit den 20 Jahren des Mouzoner Vereins " Présence de l'Abbatiale", mit meinem 50. Geburtstag, scheint reiner Zufall zu sein.

Aber kann man mit Bach eigentlich von Zufall sprechen ?

Und was für eine begeisternde Wette ist das, Jugend, oberste Reife und musikalisches Testament des Meisters nebeneinanderzustellen und genießen zu lassen !

Herzlichsten Dank an alle Teilnehmer, und Olivier Buttex vom VDE-GALLO, für diese schöne Zusammenarbeit.

Jean-Philippe Gélu

UNSERE CD 6 : "Tanzmusik an der Orgel"

Tanzmusik an der Orgel anzubieten sieht etwas fragwürdig aus. Zwar scheint der " König der Instrumente " traditionnellerweise eher zu einem liturgischen oder wenigstens heiligen Repertoire bestimmt zu sein, als zu einer im Wesentlichen laizistischen Unterhaltungsmusik.

Nicht zu vergessen ist, dass die Orgel früher kein Kircheninstrument war (die Orgeln des 10. Jahrhunderts nahmen in den offiziellen Zeremonien im Palast Platz, auf der Pferd- oder Wagenrennbahn, oder als Begleiter der Volkslieder), dass sie in Kultstätten relativ später eingeführt worden war (und oft gegen die Ansicht der Geistlichen, die sie für das Instrument der Verderbtheit hielten), und außerdem, bis vor kurzem, dass die Grenze zwischen heilig und profan ohne Zweifel nicht so dicht war als heutzutage.

Auch wenn die meisten Stücke offensichtlich zu kleinen Kammerinstrumenten angepasst waren ( diesen wunderschönen Positiv- oder Portativorgeln, die man beliebig umstellen konnte), wäre es meiner Meinung nach sehr schade, sich die Herrlichkeit dieser alten so charakteristischen Registern zu entziehen, die jetzt mit den im Urstil wiederaufgebauten Orgeln vorhanden sind, und welche diese Musik so farbenprächtig wiedergeben.

Außerdem hat Tanzmusik alle Instrumentalrepertoiren aller Epochen so beeinflußt, dass sie zu monumentalen Musikformen Anlass gegeben hat, aber deren Ähnlichkeit mit dem Originaltanz manchmal ziemlich entfernt ist (Passacaglia und Chaconne z.B.).

Das mit dieser Aufnahme angebotene Programm wurde in einer doppelten Perspektive aufgestellt : einerseits einen Teil des Klavierwerks von Bernardo STORACE vorstellen, andererseits die unzähligen Tonmöglichkeiten der Mouzoner Orgel veranschaulichen, und dies mit Registrationen, die in den vorigen Aufnahmen wenig oder gar nicht benutzt worden sind.

Was den Bau des Programms betrifft, habe ich lieber auf die chronologische Ordnung verzichtet : mir schien interessanter, die verschiedenen Epochen, die verschiedenen Musikstile und demnach die verschiedenen Tonfarben abzuwechseln, und so zu erlauben, dass die Musikstücke durch ihren Kontrast und ihre Mannigfaltigkeit sich einander erhellen.

Der größte Teil des Programms ist Bernardo STORACE gewidmet, italienischem Komponisten, von dem wir tatsächlich sehr wenig wissen. Die einzige Sammlung, die er uns hinterlassen hat, 1664 mit dem Titel " Serva di varie Compositioni d'intavolatura per cimbalo ed organo " herausgegeben, gibt trotzdem einen ungewöhnlich umfassenden und tiefgründigen Komponisten zu erkennen : prachtvolle Passacaglien und Chaconnen, mit zuweilen seltsamen Harmonien, stehen neben glasklaren und sprühenden Variationen über " modische " Themen (Folia, Spagnoletta) oder Tanzstücke (Baletto).

Wie es zu dieser Zeit noch üblich war, bestimmt der Titel diese Werke ohne jeden Unterschied für Orgel oder Cembalo ; selbstverständlich habe ich hier diejenigen ausgewählt, die mir unserem Instrument am besten musikalisch geeignet schienen.

Das 17. italienische Jahrhundert ist noch einmal mit vier Tänzen von Giovanni PICCHI, Organisten der Basilika " Santa Maria dei Frari " in Venedig, geschildert, und dessen Sammlung " Intavolatura di balli d'arpicordo ", die 1621 herausgegeben wurde, eine der wichtigsten italienischen Handschriften für Klaviertänze von dieser Zeit bildet.

Das 16. Jahrhundert ist auch vorhanden mit italienischen Tänzen aus der " Intabulatura Nova " (einer Sammlung von sehr kurzen, 1551 in Venedig herausgegebenen Stücken) und mit französischen Tänzen (1531 von dem berühmten Pariser Verleger Pierre ATTAIGNANT herausgegeben).

Wir machen eine kurze Reise ins Mittelalter mit einem sehr charakteristischen Stück dieser Epoche, " Estampie ", einem Auszug aus dem " Robertsbridgecodex " ; diese englische Handschrift, wahrscheinlich ein Fragment einer größeren, heute verschwundenen Sammlung, stammt aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts (etwa 1330) und bildet die älteste Tabulatur für Orgel, die bis heute bekannt ist.

Das Endestück des Programms kann vielleicht überraschen. Warum ein Werk von Belá BARTÓK (und darüber hinaus eine Transkription, ein heutzutage äußerst wenig empfehlungswertes Verfahren ! ) unter Werken wesentlich aus den 16. und 17. Jahrhunderten ?

Das ist ein chronologischer Riesensprung !

Mir war es doch schwierig, der Versuchung zu widerstehen, mit diesem Tonfeuerwerk zu enden. Diese aus der volkstümlichen Folklore geschöpften Bartóktänze scheinen außerdem nicht so weit entfernt von dem Geist, der die schillernden und auch populären Musikarten der vergangenen Jahrhunderte beseelt.

Pascale ROUET - Übersetzung : Jean-Philippe Gélu

JAN VAN MOL

Jan Van Mol spielte für Pavane-Records bereits Orgelwerke von Gottfried August Homilius und Johann Christoph Oley ein. Beide Produktionen erhielten internationale Anerkennung. Er ist Titularorganist an der historischen Orgel der "Sint-Pauluskerk" in Antwerpen und Dozent am dortigen Königlichen Konservatorium. Er konzertierte bereits in nahezu allen Ländern Europas.
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UNSERE CD 3 : "JEAN-JACQUES BEAUVARLET-CHARPENTIER"

Jean-Jacques Beauvarlet-Charpentier (Abbeville 1734 - Paris 1794) war einer der meist gefeierten Organisten seiner Zeit. Sein Vater, Jean-Baptiste Beauvarlet war Organist am Hospice de la Charité in Lyon. Auch sein Sohn, Jacques-Marie (1763 - 1834) wurde ebenfalls als Organist bekannt. Er blieb in Lyon, wo er seit 1771 die Stelle seines Vaters übernahm. Von 1763 versah er dort auch das Organistenamt an der Akademie der Schönen Künste.

Seine Ernennung zum Organisten der Königlichen Abtei St. Victor in Paris verdankte er wahrscheinlich Monsignore Montazet, der zugleich Erzbischof von Lyon und auch Abt von St. Victor war. Bereits 1772 wurde Beauvarlet-Charpentier der Nachfolger von Daquin in St. Paul du Marais, ein Amt, dass er später mit dem von St. Eloi des Orfevres verband. 1783 schließlich wurde er zusammen mit Armand-Louis Couperin, Balbastre und Séjan Organist von Notre Dame. Die vier Titularorganisten wechselten sich trimesterweise in den kirchlichen Diensten ab.

Bei Le Duc publizierte er zwölf Folgen seines "Journal d'orgue à l'usage des paroisses et des communautés religieuses". Der letzte Teil erschien im Mai 1784. Weitere Orgelwerke aus seiner Hand sind : "6 fugues" (op. 6, 1777), "3 Magnificats" (op. 7, ca. 1778) und "Douze Noëls variés" (op. 13,1782).

Sein "Journal" vermittelt ein gutes Bild der so genannten "Dekadenten Orgelmusik", wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts von den Pariser Organisten ausgeführt wurde. Beauvarlet hielt zwar an den klassischen französischen Formen fest, die geprägt sind durch die stereotypen Registrierungen, spricht aber eine musikalische Sprache, die sich an den Formen der Wiener Klassik orientiert. Mitunter greift er allerdings auch auf die älteren Cantus-firmus - oder Imitationstechniken zurück. David Füller spricht in diesem Zusammenhang von "a feeble grasp of counterpoint" und "a hasty, improvisatory approach of form". Nicolas Gorenstein geht dagegen so weit und behauptet : " la notation squelettique... cache des pièces maîtresses..." (die skelettartige Notation verbirgt Meisterstücke).

1766 vollendete der große französische Orgelbauer Riepp nicht weniger als vier Orgeln für das Kloster in Salem. Weil die Mönche nicht mit dem Stil seiner Instrumente vertraut waren, schrieb er für sie eine humoristische Anleitung. Die klassischen französischen Registrierformen wurden hierbei erklärt an Hand von pittoresken Bildern : "Das Grand Jeu ist ein Malzeit vor ein Generall oder vor einen grossen Prelatten und das Convent, ein Flötensolo ist vor alte Mäner, Echospiel ist für les ignorants". Die Nummern l und 26 (grand jeu), 11 und 16 (Flötensolo) und 10, 15 und 25 (Echos) dieser Aufnahme illustrieren in einzigartiger Weise die Beschreibungen von Riepp.

Das berühmte "adagium" von César Franck "Mon orgue c'est mon orchestre" spiegelt eine Tendenz wieder, die um das Ende des "Ancien Régime" im Schwange war. In zwei "Offertoires" (Concerto de hautbois und de flutte Nummer 11 und sinphonie concertante, Nummer 15) spielt die Orgel sowohl die Rolle des Orchesters wie auch die Rolle des Soloinstruments. Nur ein Jahrzehnt später übernimmt der schwäbische Organist Justin Heinrich Knecht diese Idee. Für seine Orgelschule (um 1795) komponiert er unter anderem ein "Kleines Hoboeconcert" und ein "Kleines Flötenconcert". Es gab folglich nicht allein eine wechselseitige Beeinflussung auf dem Gebiet des Orgelbaus (Riepp, Holzhey, Silbermann) zwischen Frankreich und dem Südwesten von Deutschland ; auf dem Gebiet der Orgelkompositionen war es nicht anders. Ein einflußreiches Bindeglied hierbei war sicher die Persönlichkeit des Orgelvirtuosen Abbé Vogler (1749 - 1814) aus Mannheim, der von 1784 an mehrfach Frankreich bereiste. Obwohl Knecht nicht Voglers Schüler war, wurde er dennoch durch dessen theoretische Schriften beeinflusst.

Nicht jedermann mag in diesen häufig sehr extravertierten und subjektiven Notenblättern wirkliche Orgelmusik erkennen. Dennoch war diese Musik eng verbunden mit der Liturgie, genau so wie die Kompositionen eines Bach und Buxtehude.

Jan Van Mol, Organist in Antwerpen (Belgien)

UNSERE CD 1 : "JEAN-SEBASTIEN BACH"

Die für diese Aufnahme ausgewählten Stücke unterscheiden sich etwas von den anderen Bach-Werken. Es handelt sich hier größtenteils um Einzelstücke, in denen, vielleicht noch mehr als woanders, fremde, hauptsächlich französische und italienische Einflüsse spürbar sind. Die Wahl eines typisch französischen, mit Bach zeitgenössischen Instruments schien uns aus diesem Grund besonders interessant.

Die "acht kleinen Präludien und Fugen" wurden Bach lange irrtümlicherweise zugeschrieben. Eine genaue Analyse scheint diese "Vaterschaft" jedoch zu widerlegen : die Unterschiede zwischen Thema und Gegensatz treten sonst nirgendwo in Bachs Werken auf ; der Stil der Fugen und Themen ist eher für die süddeutschen Komponisten charakteristisch ; obendrein verrät die relativ arme Komposition diverse Ungeschicklichkeiten. Außerdem würde der "galante" (spätbarocke) Stil mancher Präludien dieses Werks in die Zeit um 1730/50 verlegen ; es scheint schwer zu glauben, dass diese kleinen Stücke - wenn auch zu didaktischen Zwecken - von Bach komponiert wurden, der zu diesem Zeitpunkt schon in der vollen Reife seiner schöpferischen Kraft stand. Es ist glaubwürdiger anzunehmen, dass sie die Früchte eines süddeutschen, oder auch mitteldeutschen Komponisten sind, sei er nun Schüler von Bach oder nicht, der aber eine umfassende Bildung besaß, vielleicht in Ermangelung eines ungeheuren Talents - was die äußerste stilistische Mannigfaltigkeit bestätigt. Dennoch weisen diese Stücke sicher großes Interesse auf. Sind sie doch, ihrer Vielseitigkeit wegen, Zeugen der verschiedensten musikalischen Strömungen dieser Epoche. Es sind zwar anspruchslose Miniaturen, aber voller Frische und Poesie, angenehm und relativ leicht zu spielen, und bilden auch heutzutage noch für viele Orgelanfänger die Basis ihrer instrumentalen Ausbildung.

Die "Canzona" ist in der Regel ein zweiteiliges, frohes Stück (erster Teil "Allabreve" im Zweitakt, zweiter Teil im Dreitakt), dessen Thema sehr oft mit wiederholten Noten anfängt (cf. Frescobaldi, Buxtehude...). Die "Canzona" von Bach bewahrt einige dieser Form innewohnende Elemente (zweiter Teil im Dreitakt, Gesangstil, von gewissen italienischen Canzone nahes Thema, obwohl die wiederholten Noten am Anfang fehlen), aber setzt für das "Ricercare" typische Elemente an (erster Teil im Viervierteltakt, chromatische Gegenstimme, anhaltende Textur, die Kadenzen meidet), was die genaue Natur des Stückes schwer erfassen läßt. Der Gebrauch des Pedals, obwohl in vielen Kopien bestätigt, scheint sehr anfechtbar und die vorliegende Fassung wird vollends mit Manual gespielt.

Die Fantasie in G-Dur scheint eindeutig ihre Herkunft zu beweisen : der Titel ("Pièce d'Orgue"), die Tempoangaben ("très vitement, gravement, lentement"), die gewählte Tonart in G-Dur (Tonart der "Messe pour les Convents" von François Couperin und bei zahlreichen französischen "Plein-Jeu" im allgemeinen), das tiefe Kontra-H vom Pedal, bei einigen französischen Orgeln vorhanden, aber nicht bei deutschen Instrumenten. Dennoch befindet sich nichts direkt Entsprechendes in der französischen Musik, und diese dreiteilige u. sehr kontrastreich aufgebaute Fantasie, wo der Anfang und das Ende einen mächtigen fünfstimmigen "Mittel-Allabreve" mit gebrochenen Akkorden umrahmen, bleibt einmalig in dieser Kompositionsgattung.

Die "Pastorale" ist einzig im Werke des Kantors. Übrigens stehen heute noch mehrere Fragen darüber offen, ob die vier Sätze alle authentisch sind, ob sie alle für die Orgel bestimmt sind, oder ob sie erst später aneinandergefügt wurden? Wenn ja, von wem und aus welchem Grund ? Vielleicht passt der Titel "Pastorale" auch nur zum ersten Satz, wie einige Kopien aus dem 19. Jahrhundert es anstreben könnten zu beweisen. Aber sollte dies nicht der Fall sein, so bleibt die Tonartfolge einmalig im Werk von Bach (F-Dur in a-Moll; C-Dur; c-Moll; F-Dur). Auf jeden Fall bildet das Ganze eine vollkommen zusammenhängende u. originelle Einheit, in der die Andeutung einer Sonate in 4 Sätzen zutage tritt : Pastorale, Allemande, Aria, Giga.

Die "Canonischen Veränderungen" zu dem Choral "Vom Himmel hoch, da komm' ich her" sind total anderer Natur und von anderer Tragweite. Dieses Werk wurde von Bach für seine Aufnahme in die "Correspondierende Societät der musikalischen Wissenschaften" komponiert, die 1738 von Lorenz Christoph Mizler gegründet wurde. Diese Gesellschaft nahm erst "Musiktheoretiker" als Mitglieder auf, die für ihren Eintritt eine "Arbeit" hervorbringen mussten, die ihre musikalischen Fähigkeiten bewies. Zu dieser Gelegenheit hat Bach eine Variationsserie von einer ungeheuren strukturellen Vielfältigkeit schaffen können. Das heisst :

Var. I (dreistimmig) : Kanon an der Oktave zwischen den höheren Stimmen.. Cantus Firmus am Pedal.

Var. II (dreistimmig) : Kanon an der Quinte zwischen den höheren Stimmen. Cantus Firmus am Pedal.

Var. III (vierstimmig): Kanon an der Septime zwischen Tenor und Baß ; freie Altstimme. Cantus Firmus am Sopran.

Var. IV (vierstimmig): Kanon in Augmentation zwischen Sopran und Baß ; freie Altstimme. Cantus Firmus am Tenor.

Var. V (drei-, dann vierstimmig): Aufeinanderfolge von verschiedenerlei Kanons in Gegenbewegung : an der Sexte, Terz, Sekunde, None, Diminutionen.

 

Solch technische Höchstleistungen lassen den Verstand völlig aus dem Konzept geraten ; aber diese kunstvolle und magische Linienverflechtung, die so oft die Grenzen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens zu überschreiten scheint, verblaßt schließlich angesichts der Größe und der intensiven Poesie dieser Musik. Dank seiner genialen Schöpferkraft hat Johann Sebastian Bach wieder eine Glanzleistung vollbracht, nämlich aus einer abstrakten Übung das schönste Orgelstück zu gestalten, die Technik durch die Tonkunst zu transzendieren.

Pascale Rouet - Übersetzung : Jean-Philippe Gélu, Gisela Grosselin

UNSERE CD 2 : "CONCERT BAROQUE"

Über das Programm ...

Henry du Mont wurde 1610 in der ehemaligen Provinz Lüttich geboren, wuchs im engen Kontakt mit der italienischen Musik auf, war ein Freund von Huyghens und kam um 1640 nach Paris. Seine außergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten und sein Ehrgeiz - er hat sich unrichtigerweise der Einführung des Generalbasses in Frankreich zugeschrieben - bringen ihn von der Orgelbühne St. Paul in den Dienst des Herzogs von Anjou. Schließlich wird er Zweiter Musikmeister der "Musique du Roy" (1683), Komponist "de la Chapelle' (1672), dann Musikmeister der "Musique de la Reine" (1673). Sein Motettenbuch von 1668 enthält neben den unbestreitbar schönen Vokalstücken - wie es eindrucksvoll das "Echo Lectulo Meo" beweist - einige Instrumentalwerke "pour les violes, le clavessin ou l'orgue s'y l'on veut".

Marc-Antoine Charpentier (1643-1704) kam auch aus der italienischen Schule (Carissimi) und war einer der eklektischsten Komponisten ; er arbeitete mit Molière zusammen für den "Eingebildeten Kranken", dirigierte die "Musique du Dauphin", komponierte Theatermusik für das Fürstenhaus der Guise. Er war selbst Kontratenor und hat uns in seiner "Meslanges" ein umfassendes Werk sakraler Musik hinterlassen, das unter anderem Messen, "Leçons de Ténèbres", Oratorien... 235 kleine Motetten enthält, von denen wir zwei Elevationen für diese Aufnahme ausgewählt haben.

Louis Couperin verließ Chaumes en Brie - nachdem er anläßlich eines ländlichen Ständchens von Jacques Champion de Chambonnières entdeckt worden war - um ab 1653 in Paris als Organist von St Gervais tätig zu sein, eine Stellung, die bis 1826 in der Familie bleiben wird. Er ist gleichzeitig Organist, Cembalist und Violi da Gamba-Spieler, besucht die "Salons", wo man sich in der Kunst der Rhetorik übt. Er befindet sich im Umkreis von Johann-Jakob Froberger, der 1652 nach Paris kommt. Als wichtiges Bindeglied zwischen den polyphonen Werken von Roberday, Titelouze... und den Komponisten des Endes des 17. Jahrhunderts trägt er zum Auftreten der "Goûts Réunis" bei, die von seinem Neffen François sehr geschätzt werden, der sich 1713 in lobenden Worten über seine Werke äußert und sagt, daß "sie sogar dem Geschmack derer genügen, die einen vorzüglichen besitzen".

Nicolas Lebègue (1631 -1702), mit den Malern Le Nain verwandt und aus Nordfrankreich stammend, war außergewöhnlich bekannt (zahlreiche Kopien seiner Werke sind bis in die Neue Welt gelangt). Er ist Organist von St. Merry und der "Chapelle Royale" und auch Cembalist, Experte für Orgelbau und anerkannter Pädagoge (zählen wir nur Grigny und d'Agincourt als seine Schüler auf) und er hat uns viele Motetten für eine geringe Anzahl von Ausführenden hinterlassen, zwei Cembalobücher und drei Orgelbücher, die den Geist des französischen Orgelspiels zur Zeit Ludwigs XIV. wiedergeben. Dem dritten Buch (1685) haben wir für die vorliegende Aufnahme eine Elevation in g-moll entnommen, Imitation einer richtigen kleinen Vokalmotette.

Das geistliche Repertoire von François Couperin ist auf zwei Messen für Orgel beschränkt, einige Motetten und drei "Leçons de Ténèbres". Er war Organist von St. Gervais und der "Chapelle Royale", Cembalolehrer der Königlichen Familie. Er hinterläßt uns die "Leçons de Ténèbres pour le mercredy saint" für das Frauenkloster von Lomchamp. In diesem Kloster wurden jene Stücke "mit Erfolg gesungen" und "hochgeschätzt", zur Zeit der jährlichen Schließung der Oper... wegen der Fastenzeit ! Wie die beiden übrigen uns überlieferten Stücke basiert das zweite auf den Bibelversen des ersten Klagelieds des Propheten Jeremia und verleiht dem Generalbaß stellenweise einen ziemlich konzertierenden Charakter.

Jacques Boyvin wurde um 1643 als Sohn eines blinden Pariser Bürgers geboren und wurde, nachdem er im "Quinze-Vingt" tätig war, 1674 als Organist für die Kathedrale von Rouen ausgewählt. In seinem ersten Orgelband (1689) erscheint er schon mit dem "Grand Plein Jeu Continu" als Komponist kühner Harmonien (Entlehnung, vermeidete Kadenz, Vorhalt...). Der zweite Band, 1700 bei Ballard verlegt, ist eine Ansammlung wertvoller Interpretationsangaben wie "Vite et hardiment" für "Dessus de Tierce", und "Gay" bis "Fort lentement" im "Großen Vierstimmigen Dialog in der vierten Tonart" (zweiter Band).

André Campra wurde 1660 in Aix en Provence geboren und war nacheinander Kapellmeister in Toulon, Arles und Toulouse, und besetzte 1694 den Posten des Musikmeisters von Notre-Dame in Paris. Von 1695 an widmet er sich mit Vorliebe der Oper, zum großen Leidwesen des Chronisten Lecerf de la Viéville, der schreibt: "... wenn dieser unselige Mensch nicht die Kirche verlassen hätte, um der Oper zu dienen, ich glaube Italien hätte Mühe mit uns mitzuhalten." Nacheinander Königlicher Komponist an der "Chapelle Royale" und Opernaufseher schafft er es, den französischen Geist und die italienische Mode zu verbinden, das profane Repertoire und die geistliche Musik. Sein großes religiöses Werk umfaßt unter anderem Motetten, Messen und geistliche Gesänge, fünf Motettenbücher : für diese Aufnahme haben wir die Motette zum Heiligen Sakrament "0 dulcis amor" aus dem dritten Buch (1703) ausgewählt, die sich dem Prinzip des Tempowechsels - langsam / schnell - unterwirft, und die sich um die beiden italienisch beeinflußten Arien "da capo" und das "Jubilate Deo" rankt (erstes Buch, 1695). Sie basiert weitgehend auf Auszügen des 99. Psalms und ist von der Freude und dem Gottvertrauen der Gläubigen durchdrungen.

Dr Jean-Christophe Leclère, Organist


UNSERE CD 4 : 

SANKT REMI FEIERLICHE MESSE

CHLODWIDS TAUFE ORATORIO

von GEORGES MOINEAU

Konzertaufnahme, im Rahmen der 15. Jahrhundertfeier der Chlodwigs Taufe.

Präludium :

Chlodwigs Taufe - ein Grundakt, der Gallien aus der Wildheit der Völkerwanderung gebracht hat - hat eine politische und religiöse Ordnung restauriert, die die Treue an Rom und den germanischen Beitrag in dem Tiegel eines einzigen Glaubens verbindet.

In Reims, antikem Hauptort, hat sich diese Allianz konkretisiert. Aber Mouzon soll nicht in diesem Jahre 1996 der fünfzehnten Hundertjahrfeier vergessen werden. In einem Brief von saint Remi als wichtiges religiöses Zentrum erwähnt, ist Mouzon im Frühmittelalter der Hauptort unter Reims in den Ardennen. Nachher eine Festung zwischen Franken- und Germanenreich geworden, von einer mönchischen Miliz überwacht, ist Mouzon in Verbindung mit den fränkischen und germanischen Kulturen, die sich das Erbe von Chlodwig und Karl dem Großen teilen.

Patrick DEMOUY (Reims)

MOUZON :

Nicht nur historisch aber auch musikalisch sind Mouzon und Reims eng verbunden. Der aktuelle Mouzoner Organist und Präsident des Musikvereins "Présence de l'Abbatiale", Jean-Philippe Gélu, ist ein ehemaliger Chorist (1968-70) des Reimser Chors "Alouettes de Champagne" und hat sein Orgelstudium mit Arsène Muzerelle angefangen. Ganz selbstverständlich haben die verschiedenen Ensembles von Arsène Muzerelle seit 1975 regelmäßig in Mouzon gespielt. Mehr als 20 Jahre Freundschaft, Treue und Enthusiasmus ! Die größten Werke von Bach, Händel, Mozart, Britten, Poulenc… und Georges Moineau haben die Mouzoner Zuhörer tief gerührt.

 

Georges MOINEAU :

Georges MoineauGeorges Moineau ist 1914 in Reims geboren. In einer wiederaufbauenden Stadt erlernt er zuerst das Geigenspiel, dann weiter in Paris, bevor er in die Pariser Nationalmusikhochschule mit dem Harmonieunterricht anfängt. Nachdem er auf diesem Gebiet mit einem ersten Preis absolviert hat, unternimmt er Studien in Kontrapunkt, Fuge und Komponieren unter der Leitung von Roger Ducasse und Tony Aubin. 1947 erhält er ein Lehramt für Komposition in der Musikhochschule von Reims, wo er zahlreichen und oft hervorragenden Schülern Unterricht gibt. Bis 1974 lehrt er auch Kammermusik. Gleichzeitig begeistert er sich für Komposition, insbesondere für Vokalmusik und Folklore. Zahlreiche Chöre, unter anderem die von Arsène Muzerelle dirigierten "Alouettes de Champagne" (Lerchen der Champagne), haben oft in ihr Programm Harmonisationen oder Urwerke von Georges Moineau eingeschlossen. Seine "saint Remi Messe" wurde 1958 bei der Wiedereröffnung der Reimser Sankt Remi Basilika vorgespielt. Andere Werke : eine Sinfonie für Streichorchester, Melodien, eine Messe für drei Frauen- oder Kinderstimmen, die von vielen französischen und ausländischen "A cœur joie" Singgruppen gesungen wurde. Sein letztes Werk, "Chlodwigs Taufe", wurde in Mouzon am 28. September und in Reims am 8. Oktober 1996 geschaffen.
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Arsène MUZERELLE :

Arsène MuzerelleReimser Sängerknabe im Jahre 1927 studiert er Orgel mit dem Priester Lartilleux (1874-1943), zu dieser Zeit Organist der Kathedrale, dann mit André Marchal (1894-1980), den er als sein "Meister" betrachtet. In Paris besucht er die César Franck Schule, wo er einen ersten Preis bekommt. Sein Freund Gaston Litaize kündigt ihm eine Karriere als Konzertorganist an, aber er verzichtet darauf und wählt nach Reims zurückzukehren. Er wird 1945 zum Organisten der Kathedrale. Als Orgel- und Solfeggiolehrer bildet er eine Plejade von Organisten aus, die heutzutage Karriere machen. 1949 übernimmt er die Leitung des gemischten Chors "Les Alouettes de Champagne", der bald sehr berühmt wird. Sein Talent als Chorleiter und seine innige Zuneigung für die religiöse Musik hat François Marty - Erzbischof von Reims - dazu veranlasst, Arsène Muzerelle 1960 zum Kapellmeister und Direktor der Domschule zu ernennen. Das "Cantabile" Ensemble, das man in der Aufnahme genießen kann, ist nichts anders als der "Erwachsenenchor" der Domschule, in der Fortdauer der vom Kapellmeister dirigierten Chöre : Arbeit, Fleiß und Verlangen nach der Perfektion. Man spürt wie immer dieses völliger Einverständnis, das von jedem von Arsène Muzerelle bearbeiteten Werk ein ausdrucksvolles musikalisches Ereignis macht.


 

UNSERE CD 9 : IMPROVISATIONEN, von Marc PINARDEL (Paris)

Oktober 2002

Marc PINARDEL (1957)

Präludium : " Er ist ohne jeden Zweifel der größte französische Organist seiner Generation ", schrieb neulich ein Impresario, der von seinem Favoriten sprach. Ich zweifle nicht daran, aber ich
wage trotzdem, drei Fragen zu stellen : wie kann man objektiv die Größe messen ? Warum sollte man sich auf die Grenzen unseres Landes beschränken ? Welches ist das Interesse daran, die Generationen zu teilen ?…

Marc : Er ist weder der größte, noch der diplomierteste, noch der berühmteste, noch der reichste an CD-Ausgaben, auch noch der gefragteste Organist. Das ist ein einfacher Bursche, fleißig, wenn er es wünscht, begabt mit einem angeborenen Gefühl für Humor und feinen Spott, ernst, wenn es sein muss, bescheiden, eigensinnig, seinen Freunden treu, ein Mustergatte und ein geliebter Doppelvater. Kann man eigentlich mehr fordern ? Ja : ein leidenschaftliches Schwärmen für Improvisation und alle Musikformen : Klassik, Jazz, leichte Musik… Marc, Titularorganist der Pariser Kirche Notre-Dame de Grâce de Passy, ist ebenso gut Kirchenorganist wie Barpianist bei Maxim’s. Seine Begierde aber, die Musik, die ihm gefällt, zu machen, reicht weit zurück : in der Reimser Musikhochschule klagte sein Meister Arsène Muzerelle : " Sehr begabter Schüler, aber auch sehr eigensinnig…". Das Ergebnis ist ergreifend : Marc improvisiert in allen Stilen, in seinem inbegriffen. Sehr jung hatte er sich geschworen, die schwierige Trioübung zu beherrschen : abgemacht ! In Mouzon war Marc gut umgegeben : Pascale Rouet, die zu gleicher Zeit eine andere CD aufnahm, Vincent Paulet und Christophe Marchand, Komponisten, der Verfasser dieser Zeilen, eine kräftige Intendanz, Freundschaft und gute Laune. Das Ideal, um sich frisch und munter zu fühlen und… als Feinschmecker zu genießen. Marc wendet keine Rezepte an aber achtet einfach die Regeln eines bestimmten Stils, indem er sich ja einige kleine Überschreitungen und viele Einfälle erlaubt, die ihn unter tausend anderen von seinen Freunden erkennbar machen. Im Laufe der Aufnahme mußte Marc mehrmals das selbe Stück wiederholen (Danke, Michel, für deine Geduld am anderen Ende des Mikrophons), bevor ihm das Ergebnis präsentabel erschien : mit der Improvisation ist keine Montage möglich ! Nun kann ich hier bezeugen, dass er nie zweimal dasselbe gespielt hat : also nichts Vorherbestimmtes. Neben den Stilen, die ihm gefielen, hat Marc die Orgel selbst als Ausgangspunkt genommen, um sie zu ihrem besten Klang zu bringen und alle ihre verschiedenen – manchmal unerwarteten – Facetten zu zeigen. Da ist das Ergebnis : Eine vollendete Demonstration – sehr musikalisch und vielfältig – was man mit einem "uninteressanten Abklatsch" vollbringen kann. Danke Marc.

Jean-Philippe Gélu, "Présence de l’Abbatiale"

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Eine Improvisation-CD aufzunehmen.

Das Paradoxon, was bloß flüssig und flüchtig ist, zu fixieren, hat mich lange verhindert.

Dennoch rühren mich die Photos der Geliebten : sie strahlen den Duft des Lebens aus.

Nun also…

Hier sind die Momentschüsse dieser Nachtsspaziergänge auf einem Faden, der an der ersten Note angebunden ist und sich nach und nach unter den Füßen entwickelt.

Schwindelhafte und berauschende Reise, durch die Gemütsregungen geführt, die den Wörtern keinen Platz überlassen, parallele und intime Rede, erratisch und vektoriell zugleich.

Marc Pinardel

Übersetzung : Jean-Philippe Gélu, Gerd Harder, Lothar Knappe

 

Redakteur : Jean-Philippe Gélu : jeanphilippe.gelu(at)orgue-mouzon.org

Webmaster : Amaël Potron : potronam(at)free.fr

(at) = @


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